"Wir schaffen das!"

Klimawandel, Pandemie, Krieg in Europa – unsere Kinder wachsen in schwierigen Zeiten auf. Ein Gespräch mit Kindertherapeut Ralph Schliewenz über reale Ängste, die menschliche Anpassungsfähigkeit, Hoffnung und Verantwortung

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Von Anna Biß, 15.03.2022 0 Kommentare

Die Corona-Pandemie ist noch nicht überstanden. Jetzt gibt es Krieg in Europa. Wann ist das Maß voll? Was können wir unseren Kindern noch zumuten?

Ralph Schliewenz: Wann das Maß voll ist, wird im Einzelfall unterschiedlich sein. Da geht es ja um Resilienz-Faktoren, also die eigene Widerstandskraft. Das ist von Kind zu Kind sehr individuell und auch von Entwicklungsalter zu Entwicklungsalter. Es hängt auch vom familiären Kontext und früheren Erlebnissen ab.

Ganz grundsätzlich: Kids kann man sicherlich mehr zutrauen, als wir Erwachsene uns manchmal vorstellen. Aber wir müssen trotzdem sehr genau hinschauen, damit wir nichts übersehen. Manchmal futtern die Kleinen einfach etwas in sich hinein oder haben noch nicht die Worte, ihre Sorgen zum Ausdruck zu bringen. Das müssen wir ihnen hin und wieder altersgerecht anbieten.

Es gibt sicherlich Kinder, die so widerstandsfähig sind, dass sie sich da gut von abschotten. Die kriegen das gar nicht mit. Wenn ich diejenigen, die zu mir kommen – das sind ja die, die mindestens ein Problem haben – zu den Kriegsgeschehnissen befrage, stellt sich heraus, dass die das gar nicht so sehr beschäftigt.

Spannend, denn wir hören natürlich auch viel Gegenteiliges, also, dass es die Kinder sehr beschäftigt. Aber diejenigen, die zu Ihnen kommen, haben ja vielleicht auch andere Probleme, die vorrangiger sind.

Ganz genau. Das wäre auch meine Erklärung. Die haben momentan andere Sachen im Kopf. Von daher könnte es durchaus ein guter Hinweis auf eine gewisse psychische Gesundheit sein, wenn Kinder die aktuellen Geschehnisse wahrnehmen und sich damit beschäftigen.

Wenn wir uns die aktuellen Nachrichten vor Augen führen: Bis zu welchem Alter sollten wir unsere Kinder davon am besten völlig fernhalten?

Wenn es möglich ist, würde ich sagen, spätes Kindergartenalter / frühe Grundschulzeit. Also bis sie anfangen, sich auch gedanklich damit auseinanderzusetzen und zu beschäftigen. Wenn es nicht gelingt, sie davon fernzuhalten, ist es wichtig sich dafür zu interessieren: Welche Informationen haben die Kinder? Was ist das, wo ihre eigenen Gefühle draus entstehen?

Wie ehrlich kann ich beim Thema Krieg im Gespräch mit Kindern sein?

Ehrlich sollte ich immer sein, aber ich muss nicht die ganze Wahrheit sagen. Bis zu einem gewissen Alter würde ich auch die Wahrheit sehr dosieren und verpacken. Eine kleine Orientierungshilfe könnte sein: Fragen, die Kinder nicht stellen, stellen sich in der Regel auch nicht. Jede Frage, die ein Kind stellt, verdient aber auch eine Antwort.

Wie ausführlich muss diese Antwort sein?

Das Kind wird mir zeigen, ob es mit der Antwort zufrieden ist. Hört es auf zu fragen, dann kann ich sicherlich davon ausgehen, dass meine Antwort zufriedenstellend war. Wenn es nicht so ist, dann fragt es in der Regel weiter. Ein gesundes Kind, das Zutrauen hat und sich sicher fühlt, wird auch weiter fragen. Dann muss ich eben gucken, wie weit ich mit der Wahrheit gehen kann.

Fragen, die Kinder nicht stellen, stellen sich in der Regel auch nicht. Jede Frage, die ein Kind stellt, verdient aber auch eine Antwort.

Ralph Schliewenz, Kinderpsychologe

Und die grausamen Details sollten wir wahrscheinlich deutlich dosieren?

Die würde ich gänzlich heraushalten. Zum Glück haben unsere Medienvertreter*innen das auch ganz gut verstanden. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, wo ich bildtechnisch mit viel grausameren Details versorgt wurde.

Bilder, die so in meinem Kopf erzeugt werden, werde ich nicht mehr los. Das geht schon mir als Erwachsenem so. Der Unterschied zu den Kindern ist: Ich kann mich davor schützen. Ich kann sagen, ich schalte die Kiste gar nicht erst an. Aber bei Kindern gibt es zu viel, das wir als Eltern gar nicht mehr unter Kontrolle haben: die großen Geschwister, den Schulhof, die Smartphones und Sachen, die darüber geteilt werden. Da müssen wir als Eltern uns dann interessieren und unsere Kinder aufklären.

Also sollten wir gerade mit Bildern vorsichtig sein?

Ja, gerade Bilder haben eine unheimliche Macht. Aber wir haben natürlich auch noch andere Wahrnehmungskanäle: die Ohren, die Nase, den Geschmackssinn und natürlich auch den Tastsinn, der ganz wichtig ist. Je mehr Wahrnehmungskanäle von etwas angesprochen werden, um so tiefer gräbt sich ein bestimmtes Muster ins Gedächtnis ein und wird als Erinnerung sehr lange gespeichert.

Wie lange?

Mindestens drei Generationen tragen diese Erfahrungen weiter. Die Kinder von heute wären in Mitteleuropa die erste Generation, die mal unabhängig von Krieg – ja, jetzt müssen wir fast sagen "hätten aufwachsen können". Trotzdem ist eine wichtige Botschaft an die Kinder jetzt gerade: Wir leben hier in Frieden, wir sind hier sicher. So unsicher wir uns als Erwachsene vielleicht auch fühlen.

Wie spreche ich am besten mit meinem Kind über seine Ängste und Sorgen in dieser Situation – vor allem, wenn ich selbst auch unsicher bin?

Dann wäre die erste Aufgabe, die eigene Unsicherheit zu regulieren. Denn die Kinder spüren auch das, was ich nicht sage. Deswegen ist es ganz wichtig, erst mal die eigenen Empfindungen zu kontrollieren. Das geht ein Stück weit rational, also indem ich meinen Kopf einschalte, vernunftbegabt und verantwortungsvoll über meine Gedanken versuche, meine Unsicherheit in den Griff zu kriegen. Gelingt das, verändern sich meine Gefühle auch. Daraus können dann auch wieder gute Gefühle entstehen, zum Beispiel Sicherheit und Hoffnung. Und die kann ich dann auch an meine Kinder vermitteln.

Und was ist mit der Angst?

Angst gehört dazu. Aber wir können sie bewältigen. Allerdings nicht, indem wir sie wegmachen. Denn Angst begleitet uns das ganze Leben. Sie rettet uns auch das Leben! Angst ist ein ganz wichtiges Gefühl. Wir müssen sie nicht lernen. Vom ersten Atemzug an ist sie da und ich behaupte, sie wird uns begleiten bis zum letzten.

Das Leben, was dazwischen stattfindet, heißt auch: Probleme zu lösen, Angst zu bewältigen, also sich damit zu konfrontieren. Denn in dem Moment, in dem wir ein Problem gelöst haben, sind wir glücklich und zufrieden. Wer keine Probleme zu lösen hat, dem alle Steine aus dem Weg geräumt werden, der kann nicht glücklich und zufrieden werden.

Viele Kinder, aber auch Erwachsene, haben jetzt auch Angst vor einem dritten Weltkrieg.

Ja und das ist eine reale Angst, die wir ernst nehmen müssen. Das ist nichts Herbeigeredetes oder Erfundenes. Und deshalb braucht es eben auch eine Antwort. Die Antwort an die Kids muss lauten: Wir sind hier sicher, die Erwachsenen kümmern sich.

Auch die sozialen Medien sorgen gerade für Verunsicherung. Viele fragen sich: Darf ich jetzt gar nicht mehr glücklich sein, weil anderswo Menschen leiden?

Doch auf jeden Fall! Wir müssen auch mal ausschalten, abschalten, umschalten. Das Leben geht weiter. Auch für die Menschen in der Ukraine. Es ist wichtig, dass die guten Gefühle nicht hinten anstehen, dass wir sie uns erlauben. Also bitte, bitte, bitte: wenn es irgendwie möglich ist, lassen Sie Ihre Kinder Spaß haben!

Das ist manchmal gar nicht so leicht. Erst die Pandemie, dann der Krieg. Die Kinder müssen viel mitmachen.

Genau, wir haben jetzt den nächsten Ausnahmezustand. Es gibt sehr angesehene wissenschaftliche Kolleginnen und Kollegen, die inzwischen schon von einer Generation Ausnahmezustand sprechen. Soweit möchte ich nicht gehen. Das passt nicht zu meiner optimistischen Grundhaltung und weswegen ich Kindertherapeut geworden bin. Ich glaub da eher an die Mehrheit derjenigen, die es bewältigen. Und auch an das, was uns als Menschheit bis heute hat überleben und immer weiterentwickeln lassen: unsere ausgeprägte Anpassungsfähigkeit.

Die gibt mir immer wieder Hoffnung: Wir Menschen, wir lassen die Menschen nicht sterben. Koste es, was es wolle. Wir suchen nach Lösungen und wir finden sie auch. Wir passen uns an und aus Ausnahmezuständen wird dann auch ein Stück weit Normalität, in der wir – dank unserer Anpassungsfähigkeit – wieder gut und zufrieden leben zu können.

Ich möchte diese These gern mit folgendem Punkt untermauern: Es gibt keinen Ort auf diesem Planeten, wo Menschen nicht zu Hause sein können – in der Wüste, in der Antarktis, egal wo. Wir schaffen das!

Natürlich müssen wir an der Stelle auch an das Klima denken. Wir müssen gucken, dass wir diesen Planeten retten, für die nachwachsenden Generationen. Das ist das Prinzip Verantwortung. Wir haben die Verantwortung.

Wie können wir es trotz all dieser Themen Krankheit, Klimawandel, Krieg – schaffen, dass unsere Kinder zuversichtlich in die Zukunft blicken?

Dazu mal ein Vergleich: Ich entstamme noch der Generation No Future. Diese Generation gab es also schon und die hat es auch geschafft. Viele von denen sind ja jetzt durchaus auch in leitenden Führungspositionen und versuchen diese Welt zu managen. Wir müssen uns vor Augen führen: Die Jugendlichen von heute, das sind die Problemlösenden von morgen. Wir müssen immer die Probleme der Vorgängergeneration lösen.

Das haben ja auch viele Kinder und Jugendliche verstanden, wie wir an Bewegungen wie zum Beispiel Fridays for future sehen. Sie haben es verstanden und sagen: Halt, das ist unsere Zukunft!

Genau, und das macht mir dann wieder Hoffnung. Ich war einmal auf einer Veranstaltung von Fridays for Future, auf der ein 15-Jähriger geredet hat. Was der gesagt hat, war unheimlich klug. Die wissen das alles. Ich weiß es auch nicht besser. Das einzige, was uns unterscheidet ist, dass ich ein bisschen mehr Erfahrung habe. Aber die Teenager von heute wissen das, und das sind ja viele. Viele wissen auch, was notwendig ist. Die sitzen halt leider noch nicht an den Hebeln der Macht. Deshalb sollten wir den Kids, den Jugendlichen auch Gehör verschaffen. Wir sollten sie fragen und zwar bei jeder Entscheidung, die wir treffen. Denn sie müssen es ausbaden.

Ralph Schliewenz, Kinderpsychologe

Ralph Schliewenz ist Diplom-Psychologe sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder (16 und 20 Jahre).

Schliewenz arbeitet seit 11 Jahren in der Ambulanz der LWL-Universitätsklinik Hamm, einer großen Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Außerdem ist er Beauftragter für Kindeswohl und Kinderrechte des Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. (BDP).

Haben Sie noch etwas, das Sie Eltern gerade mit auf den Weg geben wollen?

Eine Botschaft könnte sein: Nicht immer muss ich eine Frage direkt beantworten, zum Beispiel die Frage "Warum gibt es Krieg? Wofür ist Krieg gut?". Da fällt mir auch keine Antwort drauf ein. In meiner Welt ist kein Platz für Krieg, weil ich genau weiß, dass man mit Gewalt und Waffen keine Konflikte löst. Da kann man sich dann auch eines Tricks bemühen und sagen: „Na ja, das kann ich dir jetzt gar nicht sagen. Aber vielleicht ist ja die Frage viel wichtiger: "Warum gibt es Frieden? Und wofür ist das gut?".

Wir, die wir Krieg zum Glück nie im direkten Kontakt erleben mussten, kennen ja nur den Frieden. Wir haben ihn schätzen und lieben gelernt. Das ist der Weg, wie man Konflikte löst und wie man im Leben weiterkommt: Friedlich miteinander, nicht alleine. Alleine kann ich keine Probleme lösen. Ich brauche Menschen, die mich unterstützen, die mir dabei helfen, neue Fähigkeiten zu entwickeln, damit ich es schaffe, über meinen Schatten zu springen. Das geht nur im Frieden.

Warum gibt es Krieg?“ ist wahrscheinlich wirklich die schwierigste Kinderfrage auf der ganzen Welt gerade. Und vielleicht gibt es darauf auch einfach keine richtige Antwort.

Ja und je nachdem, wen Sie fragen, werden Sie auch verschiedene Antworten bekommen. Wenn Sie den Kinderpsychologen fragen, dann sagt der: In dem Moment, wo ich Krieg erklärbar mache, legitimiere ich ihn.

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